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Ein Koffer voller Träume
Als ich ein junges Mädchen war, hatte ich drei große Träume. Ich träumte davon, einmal Kinder zu haben und Mutter zu werden. Dabei stellte ich mir vor, Fläschchen zu geben, stundenlang einen Kinderwagen zu schieben und heruntergefallene Nuckel wieder aufzuheben. Mein zweiter großer Traum war der Traum davon, in einem schönen Erker eines großen Hauses zu sitzen, wo ich mit Blick auf einen See meine eigenen Bücher schreibe. Mein dritter Traum war der Wunsch, einmal die USA zu bereisen, was wohl darauf begründet war, dass ich als Kind der späten 90er groß wurde und mich gern in amerikanischen Feel-Good-Movies verlor. Also besorgte mir mein Vater eine Landkarte Nord- und Südamerikas, die ich stolz über meinen Kinderschreibtisch pinnte. Zeitgleich trug ich das Texas-T-Shirt, das mir mein Onkel von einer seiner vielen Reisen über den großen Teich mitbrachte, solange, bis ich dafür zu groß wurde.
Auf dem Weg in eine Einbahnstraße
Heute, zweieinhalb Dekaden später, ist einer der Wünsche auf jeden Fall ich Erfüllung gegangen. Ich bin Mutter geworden und lebe diese Aufgabe mit Leib und Seele. Mit der Mutterrolle schlich sich aber auch ein Gefühl in mein Herz, auf einer Einbahnstraße zu fahren. Da waren zwar die wunderschönen Momente mit meinen Kindern, die Meilensteine, die wir feierten, dieses völlig neue Lebensgefühl und ein Herz voller Glück. Es kamen aber auch die schlaflosen Nächte, stundenlange Einschlafbegleitung, die verschütteten Saftbecher, die vielen Tränen, die ich trocknete und die Angst davor, nicht allem gerecht werden zu können. Zeitgleich ging ich einem Brotjob nach, der mich nicht erfüllte. Schließlich merkte ich, dass ich aufgehört hatte, für mich selbst zu sorgen. Ich war dabei, mich auf dieser großen Reise, die sich Leben nennt, selbst zu verlieren.
Ein schweres Eingeständnis
Eines Nachmittags brachte meine Tochter ein Kindergartenfreundebuch nach Hause. Bei der Frage, was sie später einmal werden möchte, antwortetet sie: „Eine Elfe und eine Mama. Eine Mama, wie du.“ Zwei wunderbare Wünsche und das größte Kompliment, das mir meine Tochter wohl jemals machen konnte. Plötzlich fing ich an, über meine eigenen Wünsche von damals nachzudenken und fragte mich: „Wer bin eigentlich ich? Und wo ist das Mädchen mit den vielen Träumen, das ich einmal war?“ Dann wurde mir mit einer heftigen Wucht vor Augen geführt, dass ich mich auf meiner eigenen Landkarte in einer Sackgasse befand. Ich machte mir ein Eingeständnis, das mir nicht leicht über die Lippen ging und sagte zu meinem Mann: „Mutter sein allein reicht mir nicht.“
Unsere Zeit ist jetzt
Als ich mich schließlich mit einem schlechten Gewissen in der Magengrube mit meinen Freundinnen darüber austauschte, gab es einen gemeinsamen Nenner: Mutter sein reichte uns allen nicht. Denn wir sind in erster Linie Frauen. Frauen, denen mit Beginn des Mutterdaseins ein Stempel aufgedrückt wurde, während verständnisvolle Blicke sagten: „Es kommen auch wieder andere Zeiten“. Aber nein, unsere Zeit ist jetzt. Warum sollten wir uns also auf etwas reduzieren lassen, das sich eine Rolle nennt? Was genau ist überhaupt diese Mutterrolle? Manchmal fühlt es sich an wie ein Schauspiel, bei dem wir nach außen hin die perfekte Darstellerin inszenieren und darum wetteifern, wessen Kind zuerst Fahrrad fährt. Wir verkörpern schlichtweg ein Bild, das uns von der Gesellschaft auferlegt wurde, während wir dem Druck kaum standhalten können, heutzutage alles zu sein. Mutter, Hausfrau, Arbeitnehmerin und Partnerin. Ich stellte mir die Frage, wo zwischen all diesen Personen, die ich sein musste, eigentlich die Person geblieben ist, die ich sein wollte und fasste einen Entschluss: Ich kann die Regisseurin meines Lebens sein und mein ganz eigenes Drehbuch schreiben. Und das tat ich.
Mein Geheimrezept seid ihr
Ich lasse mich täglich von starken Frauen inspirieren. In den vergangenen Jahren traf ich Gründerinnen und Auswanderinnen. Weltenbummlerinnen und Freiberuflerinnen. Die meisten von ihnen sind gleichzeitig Mütter und überall um mich herum wurden diese ganzen schallenden Stimmen laut, die sagten: „Wir wollen mehr sein als nur ein Rollenklischee!“ Mir wurde klar, dass ich nicht allein in meiner Sackgasse stand, sondern einen Haufen Frauen um mich herum hatte, die bereit waren, mit Vollgas rückwärts aus ihrer Einbahnstraße heraus zu preschen. Das gab mir ein Gemeinschaftsgefühl, gepaart mit einer großen Portion Mut. Ich legte meinen Schalthebel um und wusste: Falls der Motor mal nicht anspringt, dann schieben wir den Wagen gemeinsam aus dem Dreck.
Wege entstehen beim Gehen
So wagte ich einen ersten kleinen Schritt und fing nach vielen Jahren wieder mit dem Schreiben an. Aus dem ersten Schritt wurde ein Pfad, der sich etwas chaotisch durch meinen Alltag schlängelte. Zu jeder freien Minute, nach der Arbeit oder während des Mittagsschlafes meines Sohnes schrieb ich Kurzgeschichten. Manchmal abends, manchmal zwischendurch. Manchmal während die Kinder in der Badewanne saßen oder ich am Herd stand und kochte. Aus diesem Pfad wurde ein Weg und ich meldete schließlich neben meinem Brotjob eine freiberufliche Tätigkeit als Schriftstellerin an. Heute schreibe ich nicht nur Bücher, sondern auch Texte wie diesen hier. Dafür bin ich aus tiefstem Herzen dankbar. Ich fand einen wichtigen Teil von mir selbst wieder, der mich die Frau sein lässt, die ich neben einer Mutter immer sein wollte.
Marmeladenglasmomente
Früher dachte ich, man kann im Leben nicht alles habe. Heute weiß ich, dass man aber von vielen Dingen ein bisschen haben kann. Das Leben besteht aus tausenden Marmeladenglasmomenten, die zu einem köstlichen Brotaufstrich werden. Dieser gibt uns die Kraft, auch mal wieder eine neue Route in das Navigationssystem einzutippen. Vielleicht ist es der Yogakurs, den du endlich startest oder ein wöchentliches Treffen mit der besten Freundin. Vielleicht ist es der Surfschein, von dem du schon seit deiner Jugend träumst oder die selbstgezüchteten Blumen aus dem eigenen Garten. Du bist es wert, für dich selbst zu sorgen und Dinge in deinen Alltag zu integrieren, die dir guttun. Fang einfach an zu träumen und mach den ersten Schritt.
Dein nächstes Kapitel
In dem letzten Freundebuch beantwortete meine Tochter die Frage über ihren Berufswunsch folgendermaßen: „Wenn ich groß bin, werde ich eine Einhornbesitzerin und eine Bücherschreiberin wie du.“ Ich glaube, damit hat sie mich noch stolzer gemacht, als ich es eh schon bin. Nicht, weil sie mir nacheifern möchte, sondern, weil sie eine wichtige Sache verstanden hat: Du hast die Möglichkeit, dich jeden Tag wieder neu zu entscheiden, wer du sein willst und wo du hin möchtest. Ob ich es auch nochmal schaffe, in die USA zu reisen? Vielleicht schreibe ich dieses Kapitel meines Lebens, wenn die Kinder groß sind, und wir lassen uns währenddessen alle ein Erdnussbuttersandwich schmecken. Als Familie und mit ganz viel Marmelade.
Text: Judith Lahfeld
Judith Lahfeld
„Nabelschnurlänge“
ISBN: 978-3-7108-1119-7
(erschienen bei story.one publishing, Hardcover, 18,00 €)
„Kinderspiel“
ISBN: 978-3-7108-2059-5
(erschienen bei story.one publishing, Hardcover, 18,00 €)
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