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Rauf auf den Sattel. Ein paar Tritte in die Pedale. Schon bin ich weit weg vom Alltag, mittendrin in der Natur, mir selbst ganz nah. Ich kann fahren, wohin und so schnell ich will. Alles Nötige hab ich dabei. Es ist die ultimative Freiheit. Und immer wieder ein Abenteuer.
Das hatte ich mir anders vorgestellt
Tag eins meiner Radreise beginnt jedoch ganz anders als geplant. Eigentlich wollte ich mit dem Zug von Hamburg nach Stralsund fahren, um von dort auf dem Ostseeküstenradweg nach Zingst zu radeln. Jetzt macht mir die Bahn einen Strich durch die Rechnung. Mein ICE fällt aus. Schlimmer noch: Es gibt eine Signalstörung – die Strecke ist gesperrt. Ich suche nach Alternativen und finde schließlich eine Verbindung über Lübeck. Viermal umsteigen, alles Regionalbahnen. Um nicht ganz so viel Zeit zu verlieren, entscheide ich mich, nur bis Rostock zu fahren und dann mit dem Fahrrad den direkten Weg nach Zingst zu nehmen. Immerhin: Alle Züge fahren pünktlich und haben Platz für mich und mein Gravelbike.
Dies ist nicht meine erste Biketour. 2014 hatte ich die fixe Idee, mit dem Rad von Hamburg nach Kopenhagen zu fahren. Ich kaufte mir eine Streckenkarte, zwei Packtaschen (wie um alles in der Welt sollte dort alles hineinpassen?) und machte einen Pannenkurs. Und als es endlich losging, war ich ziemlich aufgeregt. Doch schon nach wenigen Kilometern wurde die Nervosität vom ersten Bikers-High abgelöst. Jeden Abend war ich stolz, mein Etappenziel erreicht zu haben und nach einer Woche fuhr ich mit breitem Grinsen durch Kopenhagens Straßen. Seitdem vergeht kein Sommer, in dem ich nicht zumindest eine kleine Radreise unternehme.
Streckenlänge ist relativ
Als ich nun in Rostock endlich aufsattele, regnet es ohne Pause. Klar, Schlechtwetterphasen gehören bei Outdooraktivitäten dazu, aber heute hätte ich wirklich darauf verzichten können. Zumal die Strecke fast ausschließlich an viel befahrenen Straßen entlangführt und keine wirkliche Ablenkung bietet. Selten sind mir 60 Kilometer so lang vorgekommen…
Dabei machen mir lange Etappen normalerweise nichts aus. Ich liebe es, mehrere Stunden auf dem Bike zu sitzen, den ganzen Tag draußen zu sein, die Landschaft an mir vorbeiziehen zu lassen, in den Moment abzutauchen. Wenn der Weg im Fokus steht, ist es egal, ob ich für die Strecke am Ende eine Stunde mehr oder weniger brauche. Dann fühlen sich selbst 100 Kilometer plötzlich leicht an.
Genau hier liegt das Problem. Jetzt will ich einfach ankommen. Und sobald ich nur noch ans Ziel denke, geht der Flow verloren. Ich spüre die Anstrengung, meine Gedanken klingen wie ein ungeduldiges Kind „Wann sind wir endlich da?“.
Im Einklang mit der Natur
Zum Glück ist das am nächsten Tag wieder ganz anders. Die Sonne scheint, die Tour führt mit Blick auf die Ostsee von Zingst nach Prerow und dann auf die Boddenseite der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Zwischen Born und Ahrenshoop geht es über einen schmalen Damm. Welche Vogelvielfalt sich hier im Schilf verbirgt, lässt sich nur erahnen. Ein mehrstimmiges Naturkonzert erklingt: Es tiriliert und trällert, zwitschert und singt in den wohlklingendsten Tönen.
Es sind Augenblicke wie dieser, diese Verbundenheit mit der Natur, die den Zauber einer Fahrradreise ausmachen. Diese Welt hat so viel Schönheit, der wir allzu oft keinerlei Beachtung schenken. Aber hier, auf meinem Gravelbike, wo es nichts anderes zu tun gibt, als die Landschaft zu betrachten, sauge ich die Eindrücke ungefiltert in mich auf.
Pausen, wann und wo es mir gefällt
Dafür bin ich mit dem idealen Tempo unterwegs. Beim Wandern schaffe ich keine so langen Strecken, trete gefühlt auf der Stelle. Mit dem Auto würde ich nur an der Umgebung vorbeirauschen, könnte keine Details wahrnehmen und wäre im Inneren des Fahrzeugs von der Natur draußen abgetrennt. Mein Fahrrad ist der perfekte Mittelweg: Ich komme gut voran, habe aber auch Zeit, die Landschaften wirklich zu genießen. Und ich kann jederzeit anhalten, wo es mir gefällt.
Pausen am Strand sind mir am liebsten. So wie in Ahrenshoop. Ich hatte schon viel von dem einzigartigen Licht gehört, das zahlreiche Künstler in das hübsche Ostseebad zieht. Und tatsächlich empfängt mich ein besonderes Leuchten. Für ein paar Minuten setze ich mich nah der Brandung in den Sand, schaue zum Horizont und lausche dem Wellenrauschen.
Die Ostsee bleibt für den Rest des Tages an meiner Seite. Zunächst geht es von Ahrenshoop auf der Steilküste vorbei an Wustrow nach Dierhagen und von dort weiter über Graal-Müritz und durch die Rostocker Heide nach Hohe Düne. Mit einer kleinen Fähre gelange ich von hier direkt ins Zentrum von Warnemünde. Nach der Ruhe auf dem Radweg überfordern mich die vielen Menschen etwas und ich bin froh, als ich das Ostseebad hinter mir lasse.
Zeit für Gedankenspiele
Der Gespensterwald in Nienhagen, den ich bald darauf durchfahre, ist da schon eher nach meinem Geschmack. Bis zu 170 Jahre alte Eichen, Buchen, Hainbuchen und Eschen stehen hier relativ weit auseinander. Sie Stämme sind hochgewachsen, die Kronen vom Ostseewind geformt. Das Spiel von Licht und Schatten sorgt tatsächlich für eine mystische Stimmung.
Die regt zum Nachdenken an. Am liebsten mache ich solche Biketouren allein. Dann quatscht mir niemand rein, ich gebe die Geschwindigkeit und die Richtung vor. Und ich kann mir wieder selbst begegnen.
Wie geht es mir gerade eigentlich? Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Nicht hier mit dem Rad, sondern so ganz allgemein im Leben? Manchmal denke ich beim Fahren bewusst über die großen Fragen nach. Vor allem aber hat mein Unterbewusstes endlich mal Gelegenheit, die Dinge, die in letzter Zeit passiert sind, sacken zu lassen. Es ist mehr ein Hineinfühlen, ein Horchen, ob mir mein Ich etwas mitteilen will, was ich im Alltag wegdrücke, weil zwischen all dem Funktionieren kein Platz dafür ist.
Dem stetigen Rhythmus folgend
Für heute habe ich mit Kühlungsborn mein Ziel erreicht. Ab morgen wird es nicht mehr direkt an der Küste entlang gehen. Zunächst wird das Meer aber noch eine ganze Weile in Sichtweite bleiben, bevor ich ab Wismar landeinwärts abbiegen werde. Sofern es die leichten Steigungen zulassen, werde ich dann auch mal ein bisschen Gas geben und den Fahrtwind in meinem Gesicht genießen. Am Schweriner See werde ich eine Rast am Fischimbiss Prignitz einlegen und weil es dort herrlich idyllisch ist, kurz darauf gleich noch mal im Gartencafé am Schloss Wiligrad. Wer sagt denn, dass ich mich zwischen Matjesbrötchen und Zitronentorte entscheiden muss?
Die restliche Tour wird mich vom Schweriner See in zwei weiteren Tagen vorbei an Ratzeburg und Mölln, dem Elbe-Lübeck-Kanal und Lauenburg wieder nach Hamburg führen. Ich werde Füchse sehen und Störche, den Gegenwind verfluchen und die Sonne auf meiner Haut spüren. Vor allem aber werde ich weiter in die Pedale treten. Diesem gleichmäßigen Rhythmus folgend, der sich immer wieder wiederholt. Kilometer für Kilometer wird unter meinen Reifen der Asphalt rauschen oder Kies knistern. Ich werde eine tiefe Zufriedenheit spüren, die sich nur dann einstellt, wenn man sich aus eigener Kraft fortbewegt. Und es wird nichts Wichtigeres geben, als auf dem Fahrrad zu sitzen und den Weg auszukosten.
Text: Anke Hermeling
Anke Hermeling
Ich bin freie Redakteurin, Autorin und Texterin – und davon überzeugt, dass Schreiben Kunst und Handwerk zugleich ist.
Website:
mitherzundkomma.de