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Grenzen setzen, Nein sagen, die eigenen Bedürfnisse achten. Das sind sehr grob zusammengefasst die drei Dinge, die mir ChatGPT geraten hat, als ich danach gefragt habe, wie ich als Thirty-something gleichzeitig Karriere machen und ein ausgeglichenes Leben führen kann.
Überholte Rollenbilder soll man zuerst überdenken und dann über Bord werfen, denn wir leben schließlich in einer emanzipierten westlichen Gesellschaft. Die Meinung „der anderen“ soll einem ziemlich egal sein, denn die eigenen Bedürfnisse haben immer erste Priorität. Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht – oder so ähnlich.
Und wenn man merkt, dass das Hamsterrad zur Zentrifuge wird, die einen demnächst ins Off katapultiert, dann soll man einfach meditieren. Oder ein Journal führen, auf etsy gibt es da ja ganz tolle. So weit, so vorhersehbar und leider auch so unrealistisch.
Trotzdem habe ich weiter gefragt, nämlich was ich am besten tun sollte, wenn ich nun diese Tipps in einen Artikel verwandeln wollen würde, der auch anderen Frauen hilft. Die Vorschläge: Gliederung ausdenken, inspirierende Arbeitsatmosphäre suchen, Zeit blocken. Wenn es nach Chatty, wie ich die Maschine inzwischen getauft habe, geht, hätte ich diesen Text mit einem super healthy Getränk voller Ballaststoffe und Vitamine neben dem Macbook schreiben sollen, ungestört von Terminen oder anderen Erscheinungen des Privatlebens.
Schon wieder muss ich sagen: So weit, so vorhersehbar und zumindest für mein hier und jetzt leider auch so unrealistisch.
Denn tatsächlich entsteht dieser Text in Etappen. Ein paar Gedanken kommen mir im Stehen, während ich auf die (in diesem Fall zum Glück verspätete) U-Bahn warte. Andere, während ich mein Mittagessen esse, zwar vor dem Rechner und ohne Bewegung, aber immerhin gibt es Salat. Und wieder andere, während ein unglaublich stereotypischer und scheinbar unverwundbarer Chris Hemsworth vor mir über den Bildschirm flimmert … Netflix und think.
Bestimmt liegt das einerseits daran, wie ich gestrickt bin, dass ich lieber in kleinen Sprints arbeite als in langen Marathons. Andererseits liegt es aber auch daran, dass ich eben ein Thirty-something bin und daran arbeite, gleichzeitig im Job erfolgreich zu sein und ein ausgeglichenes Leben zu führen. Und da wird die Zeit manchmal ganz schön knapp.
Knapp, denn ganz so Unrecht hatte Chatty ja nicht. Die eigenen Bedürfnisse achten.
Mein Bedürfnis ist es zum Beispiel, nicht in die Altersarmut zu rutschen. Ist noch lang hin, zum Glück, aber jetzt ist die Zeit, die richtigen Weichen zu stellen. Also nutze ich die Zeit, in der ich noch keine Familie habe, um mich in eine komfortable Position zu bringen, für den Moment, in dem ich Familie habe. Also habe ich mich dafür entschieden, punktuell auch mal mehr zu arbeiten.
Dass das auf Kosten meiner Freizeit geht, nehme ich in Kauf. Und ebenso ist es mein Bedürfnis, anderen zu helfen, Dinge zu bewegen und Dinge möglich zu machen. Das gilt für mein Leben im Job und auch daneben. Doch geht das manchmal damit einher, dass die eigenen Grenzen manchmal mehr Deko als Randbegrenzung sind. The magic happens meistens außerhalb der Komfortzone – klingt nach Wandtattoo, ist ja aber durchaus richtig.
Was also tun? Akzeptieren, dass Work-Life-Balance vielleicht nicht bedeuten muss, dass jeder Tag ausgeglichen ist. Dass jeder Tag ein bisschen von allem ist: etwas Arbeit, etwas Freizeit, etwas Entspannung. Vielmehr glaube ich, dass wir unser Leben in Wellen organisieren können. Dass es Zeiten gibt, in denen mehr Arbeit stattfindet. Und andere Zeiten, in denen das Ich im Vordergrund steht und mein Bedürfnis nach Erholung und körperlicher statt geistiger Anstrengung.
Und irgendwann auch „die anderen“, besonders dann, wenn es sich dabei um kleine Kinder handelt. Seit ich mir diese Wellen selbst eingestehe, seit ich akzeptiere, dass sich Bedürfnisse verschieben, kann ich Grenzen punktuell überschreiten, ohne dabei ständig ein schlechtes Gewissen im Huckepack haben.
Denn was ist schon Balance, wenn nicht der kleine, flüchtige Moment, bevor das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlägt?
Text: Julia Schwendner
Julia Schwendner
Julia ist Anfang dreißig, lebt und arbeitet in München. Wenn sie nicht gerade vor dem Bildschirm sitzt, ist sie am liebsten in den Bergen unterwegs – auf zwei Brettern, zwei Rädern oder zu Fuß.
Instagram: @Julia.undweiter
LinkedIn: Julia Schwendner